Die Theorie der inneren Beziehung

„Eure Vernunft und eure Leidenschaft sind das Ruder und die Segel eures Seelen-Schiffes.

Büßt ihr Segel oder Ruder ein, werdet ihr zu einem Spielball des Windes, oder aber ihr schaukelt antriebslos auf den Wellen.

Denn die Vernunft ist, herrscht sie allein, eine hemmende Kraft; und die Leidenschaft ist, unbeaufsichtigt, eine Flamme, die an sich selbst verbrennt.“

Khalil Gibran

Die Theorie der inneren Beziehung ist so etwas wie mein Hauptwerkzeug, um Menschen und ihr Handeln zu analysieren. Sie baut auf dem Grundmodell der US-amerikanischen Psychologinnen Erika J. Chopich und Margaret Paul auf, das die menschliche Psyche in zwei Teile teilt: das empfindende innere Kind und den denkenden inneren Erwachsenen. Beide Teile stehen in enger Wechselwirkung und prägen unser alltägliches Erleben. Der Umgang des inneren Erwachsenen mit dem inneren Kind ist entscheidend dafür, wie wir uns fühlen, wie wir anderen Menschen begegnen und wie wir unser Leben gestalten. Ich habe dieses Grundkonzept in den letzten Jahren anhand meiner eigenen Erfahrungen weiterentwickelt und nenne das theoretische Gerüst, das daraus entstanden ist, die „Theorie der inneren Beziehung“.

Was besagt die Theorie der inneren Beziehung?

Zuallererst wird die Psyche, wie gesagt, theoretisch geteilt: Es gibt das innere Kind und den inneren Erwachsenen. Das innere Kind ist der biologisch vorprogrammierte Teil unserer Psyche. Der Begriff des inneren Kindes umfasst alle Mechanismen, die die Evolution uns mitgegeben hat und die wir bis an unser Lebensende behalten. Dazu zählen körperliche Bedürfnisse und Meldungen über den körperlichen Zustand (Hunger, Kältegefühl, Anspannung etc.), Motive (Macht-, Leistungs- und Anschlussmotiv) und Gefühle (Freude, Wut, Angst etc.). Das innere Kind bildet das unverzichtbare und unveränderbare Fundament unserer Psyche.

Der innere Erwachsene ist die zusammenfassende Bezeichnung aller höheren kognitiven Funktionen und Inhalte, also hauptsächlich das, was wir gemeinhin „Verstand“ nennen. Zum inneren Erwachsenen gehören alle Teilbereiche der rationalen Intelligenz sowie sämtliche Selbstregulierungs-mechanismen und gelernte Muster. Der innere Erwachsene steuert das innere Kind. Er entscheidet darüber, wie wir mit unseren Empfindungen im Inneren umgehen und welche Antriebe wir wie in Handeln umsetzen. Die Fähigkeiten des inneren Erwachsenen sind angeboren, seine Inhalte durch Erfahrung angeeignet oder spontan erarbeitet.

Das Zusammenspiel von innerem Kind und innerem Erwachsenen ist die innere Beziehung. Hier wirken die beiden Seelenteile aufeinander ein: Das innere Kind liefert dem inneren Erwachsenen Informationen über sein Befinden und seine Bedürfnisse, die der innere Erwachsene verarbeitet und in Handeln umsetzt. Umgekehrt beeinflusst und steuert der innere Erwachsene das innere Kind, indem er (z. B. durch Interpretationen der Außenwelt) bestimmte Gefühle und Antriebe erzeugt oder verstärkt, andere hingegen verdrängt oder abmildert.

Es ist möglich, die innere Beziehung (zumindest Teile davon) im Inneren nachzuvollziehen. Auf der Ebene des Bewusstseins bildet sie sich als innerer Dialog ab: Wir spüren das innere Kind als Empfindung in unserem Körper und „hören“ den inneren Erwachsenen als Gedanken in unserem Kopf. Der innere Dialog ermöglicht uns den Zugang zu unserer inneren Beziehung und eröffnet uns die Möglichkeit, gezielt Einfluss darauf zu nehmen. Die meisten inneren Prozesse laufen unbewusst und automatisiert ab. Wir können uns diese Prozesse aber auch bewusst machen und unsere innere Beziehung aktiv gestalten, indem wir bestimmte Einstellungen und Gedankenmuster (Teile des inneren Erwachsenen) verändern. Auf diese Weise haben wir die Möglichkeit, unser Gefühlsleben bewusst und gezielt zu regulieren.

So sieht das dann aus:

 

Es ist aber nicht nur möglich, sich die eigene innere Beziehung zu erschließen, sondern wir können auch die inneren Beziehungen anderer Menschen von außen nachvollziehen. Um von außen Zugang zur inneren Beziehung eines Menschen zu bekommen, müssen wir mit ihm kommunizieren oder seine Kommunikation mit anderen Menschen beobachten. Ich unterscheide zwei Kommunikationsebenen: Die nonverbale Kind-Ebene und die verbale Erwachsenen-Ebene. Diese beiden Ebenen existieren parallel zueinander, d. h. in einem Gespräch zwischen zwei Menschen kommunizieren innere Kinder und innere Erwachsene gleichzeitig auf ihren jeweiligen Ebenen.

Auf der Kind-Ebene tauschen sich die inneren Kinder über ihre Gefühle, Motive und Bedürfnisse aus. Das tun sie weitgehend automatisiert und unkontrolliert und ohne dass wir viel davon mitbekommen. Die Schlüsselfähigkeit, um Informationen von der Kind-Ebene aufzunehmen, ist die Empathie, oder wie ich sie nenne, fühlende Wahrnehmung: Wir spüren, was ein Mensch empfindet und was ihn antreibt. Die Voraussetzung für eine bewusste fühlende Wahrnehmung ist, dass wir Zugang zu unserem eigenen inneren Kind haben. Wenn wir unsere Gefühle und Bedürfnisse selbst nicht oder kaum spüren, spüren wir auch die anderer Menschen nicht.

Auf der Erwachsenen-Ebene kommunizieren die inneren Erwachsenen miteinander: Wir sprechen miteinander und tauschen unsere Gedanken, Meinungen und Sichtweisen aus. Auf dieser Ebene bewegen wir uns i. d. R. sehr viel bewusster als auf der Kind-Ebene und können das, was wir nach außen hin preisgeben, auch viel besser kontrollieren. Auf der Erwachsenen-Ebene können Informationen zurückgehalten und verfälscht werden (was auf der Kind-Ebene praktisch unmöglich ist). Das kann das Verständnis eines Menschen zuweilen erschweren, aber auch viel darüber verraten, wie er oder sie zu sich selbst steht. Wer z. B. seine Ängste nach außen hin verleugnet, tabuisiert diese höchstwahrscheinlich auch im Inneren.

Aus den gesammelten Informationen von den beiden Ebenen können wir uns ein Bild von den psychischen Vorgängen in einem Menschen machen – auch ohne explizit danach gefragt zu haben. Das innere Kind sendet ständig ungefragt und ungefiltert Informationen über seine Empfindungen und Motivlage nach außen, der innere Erwachsene übermittelt durch seine Aussagen Informationen über seine Einstellung zum inneren Kind. Widersprüche zwischen den Ebenen weisen auf Konflikte in der inneren Beziehung und Verdrängungsmechanismen hin; so lassen sich viele Muster erkennen, die in der inneren Beziehung wirken. Mit ein bisschen Erfahrung und einer guten Kenntnis der Wirkungsweisen von innerem Kind und innerem Erwachsenen kann man auf diese Weise viele Aussagen über die psychischen Vorgänge in einem Menschen und die Beschaffenheit seiner inneren Beziehung treffen.

Wofür kann man die Theorie der inneren Beziehung verwenden?

Kurz und knapp gesagt: Für die Analyse von Menschen und ihren Beziehungen in jeder denkbaren Hinsicht und Situation. Die Theorie der inneren Beziehung ist eine universelle Theorie. Sie ist so grundsätzlich und allgemein konzipiert, dass sie praktisch überall verwendet werden kann, wo es um Menschen und Beziehungen geht. Man kann sie nutzen, um sich selbst und andere Menschen besser zu verstehen. Sie kann als theoretische Grundlage für Psychotherapie verwendet werden, da viele psychische Leiden und Störungen auf Konflikte und destruktive Muster in der inneren Beziehung zurückgehen. Man kann sie zur Analyse und Lösung von zwischenmenschlichen Konflikten einsetzen und man kann damit das individuelle Verhalten von Menschen in bestimmten Situationen vorhersagen. Ich persönlich nutze die Theorie der inneren Beziehung vor allem für gesellschaftliche Analysen, um bestimmte soziale Phänomene tiefenpsychologisch zu beschreiben und zu erklären und Lösungsvorschläge für gesellschaftliche Probleme zu erarbeiten.

Der größte Vorteil der Theorie der inneren Beziehung ist, dass sie Vorgänge in uns erfasst und ordnet, die sich verbal schwer erfassen und ordnen lassen. Der Großteil dessen, was im Inneren von Menschen und zwischen ihnen vor sich geht, findet unbewusst und nonverbal statt. Mit der Theorie der inneren Beziehung kann man diese Vorgänge auf eine bewusste Ebene holen und sie verbal beschreiben. Allerdings ist die Theorie der inneren Beziehung – anders als wissenschaftliche Theorien – eine sehr persönliche Theorie: Ob und wie gut man das innere Kind anderer Menschen wahrnimmt, hängt ganz maßgeblich davon ab, ob und wie gut man sein eigenes inneres Kind wahrnimmt. Ohne bewusste fühlende Wahrnehmung und ohne die Bereitschaft, die eigenen psychischen Vorgänge zu reflektieren, ist der theoretische Rahmen wertlos.